Jürgen Doppelstein
Ist es nicht so, dass in der Gegenwartskunst zumeist die Konzepte, die Gedanken und Fragestellungen im Vordergrund stehen und die Ästhetik eines Werkes eher als beiläufig betrachtet wird. Ist es nicht so, dass Gegenwartskunst häufig politisch motiviert und um kritische Stellungnahme zur Zeitgeschichte bemüht ist? Man darf davon ausgehen, dass bereits alle kindlichen und gelehrten Fragen zur zeitgenössischen Kunst gefragt und so unvollständig beantwortet wurden, dass von ihnen ein nützlicher Stachel im Geist zurückgeblieben ist. Was aber fragt sich der Betrachter angesichts der Malerei von Frank Wiebe, wenn er sich plötzlich überraschenden physikalischen Erscheinungsformen ausgesetzt sieht, die ihn an Planeten oder Kometenkonstellationen im dunklen Raum, an phantastische Landschaften, schön wie Sternenstaub, an geologische Formationen oder Mikroorganismen, an helltönige Kristalle in farbigen Magnetfeldern oder energetisch aufgeladene Elemente und deren schnell wechselndes Anziehen und Abstoßen erinnern. Er fragt gar nicht, denn er weiß: Was sonst ist die Welt als die Gesamtheit ihrer physikalischen und biologischen Erscheinungen. Das ist zwar nicht neu, aber in der Form – vielleicht so noch nicht formuliert.
Zwei Formen der Andacht sind möglich, wenn mir die Fragen abhandenkommen. Immer dann, wenn ich angesichts künstlerischer Werke die Unvereinbarkeit zwischen Gesehenem und Gelerntem erkenne, wandele ich mich zum Weltflüchtigen und es gibt nur zwei Möglichkeiten da wieder herauszukommen, entweder als Höhlen- oder als Säulenbewohner? Gehe ich hinaus und schreie meine Ohnmacht in die Welt oder ziehe ich mich zurück, gehe ich in mich hinein und umschließe mich, werde ich uteral oder phallisch?
Ich entscheide mich zwar nicht für die Säule, aber für das Feld und gegen die Höhle. Ich sehe dieses verlockende Spiel von Farbe und Licht. Frank Wiebe ist ein Kolorist, der das Dunkel liebt und sich doch immer wieder für die Farbe und ihre flammende Schönheit entscheidet. Wie ein leuchtendes Spektrum von Komplementärfarben, aufgetragen mit entschlossenem Pinselstrich stehen sie gegeneinander, Schicht um Schicht aufgetragen, wieder und wieder übermalt auf häufig monochromen Grund, der mal hermetisch und verschlossen und dann wieder offen und durchsichtig wirkt wie wässrige Lasur. Vertikale und horizontale Farbflächen durchziehen Wiebes Kompositionen, verwischen sich, gehen ineinander über, sind rot, gelb, blau, weiß, schwarz, immer wieder schwarz, durchzogen mit energetischen Netzwerken oder diesen merkwürdig kleinen Elementen, solche, die man lieben möchte, weil sie in die Kindheit scheinen, doch die einem eigentlich nur im Traum begegnen. Ich übernehme die Arbeit des Entzifferns der Bilder, die vor mir stehen, füge Bildteile ineinander, suche Zusammenhänge und Entsprechungen, so, als wollte ich aus tausenden von Poren ein Gesicht zusammensetzen. Nein, nur nicht zurück in die Höhle, denn die leidenschaftliche Absonderung zerstört den Verstand und nichts wird dort von dem Unsichtbaren im Bild sichtbar gemacht. Ich suche Klarheit, Verständnis, Einvernehmen mit der künstlerischen Intention und das Herzklopfen steigt.
Also doch das Feld, vielleicht das soziale Feld, Wiebe schweigt dazu, aber ich spüre, er meint eigentlich gar nicht die Topografie der imaginären Landschaft, die physikalischen oder geologischen Felder. Mit seinen Bildkompositionen beschreibt er nicht organische und anorganische Systeme, keine tote Materie sondern er formuliert die hochlebendigen Gesetzmäßigkeiten innerhalb gesellschaftlicher Konstellationen. Seine Farbfelder und Netzwerke beschreiben nicht wertfreie Materie, sondern unseren tagtäglichen Kampf um Position und Ansehen. Der Maler setzt das soziale Kapital, das symbolische Kapital, das kulturelle Kapital, das ökonomische Kapital, die Kampffelder des sozialen Raumes ins Bild und zeigt dabei ein fundamentales Aufbegehren. Das wird es sein!
Die Gegenwartskunst ist also doch politisch motiviert und um kritische Stellungnahme zur Zeitgeschichte bemüht und Frank Wiebe befindet sich auf der Höhe des gesellschaftlichen Diskurses. Ich stehe im kulturellen Subfeld, das Kunst heißt und sicher einer eigenen Befragung bedarf. Da tritt mir der Maler entgegen und weist meine Annahmen zurück. Er empfängt keinen unerwarteten Besuch. Aber wie kann ich als Fragender woanders unterkommen, Gehör finden und Gestalt annehmen? Gang und Haltung müssen jetzt leicht und federnd bleiben. Ich stehe aufrecht vor der Tür und klopfe, doch da ist keiner, den Ankommenden bei sich aufzunehmen.
Being heard and taking shape
Jürgen Doppelstein
Is it not true that concepts, ideas, and issues usually have priority in contemporary art, and the aesthetic quality of a work of art is only considered in passing? Is it not true that contemporary art is often politically motivated and seeks to critically comment on our times? It is safe to assume that all naïve and scholarly questions relating to contemporary art have already been asked and answered in such an incomplete manner that they have left a useful thorn in the mind. Yet which question does the viewer pose to him- or herself at the sight of Frank Wiebe’s paintings, when suddenly confronted with surprising physical manifestations, which are reminiscent of planets or constellations of comets in dark space, fantastic landscapes as beautiful as stardust, geological formations or micro-organisms, pale-hued crystals in colorful magnetic fields, or energetically charged elements with swiftly alternating dynamics of attraction and repulsion? The viewer does not pose any questions, for he or she knows that the world is in itself the sum of its physical and biological phenomena. This may not be new, but has perhaps never been expressed in quite this way.
When I am at a loss of questions, two forms of mediation are possible. Every time I recognize the incompatibility between what I perceive and what I have learned, I escape from the world, and there are only two ways to get out of this situation, either by becoming a cave or a pillar dweller. Do I venture outside and yell my powerlessness into the world, or do I withdraw into and enclose myself? Do I become uteral or phallic?
I do not choose the pillar, but instead decide in favor of the field and against the cave. I see this enticing play of colors and light. Frank Wiebe is a colorist who loves the dark and yet consistently embraces color and its flaming beauty. Like a luminous spectrum of complimentary colors applied with a vigorous brush stroke, they are set against each other, spread out layer for layer, painted and overpainted again and again on a monochrome background, which alternately appears hermetic and sealed, then again open and translucent like aqueous glaze. Vertical and horizontal color fields pervade Wiebe’s compositions, flowing and blending into one another in red, yellow, blue, white, and, again and again, in black, permeated with energetic networks or those peculiar small elements that one immediately adores since their glow shines back to childhood days, although one actually only encounters these in the realm of dreams. I assume the task of deciphering the paintings situated before my eyes, putting together the various pictorial elements and looking for interrelationships and correspondences, as if attempting to assemble a face out of thousands of pores. No, nothing can prompt me to return to the cave, for the passionate emission destroys the mind, and nothing is made visible of the invisible there in the picture. I seek to find lucidity, comprehension, and concordance with the artist’s intentions, and my heartbeat increases.
So the field, perhaps the social field, is relevant after all. Wiebe remains silent on this question, but I sense that he does not actually have in mind the topography of the imaginary landscape, of physical or geological fields. With his compositions he does not describe organic or inorganic systems or inanimate matter, but rather formulates the highly vital laws within social constellations. His color fields and networks do not describe a neutral substance, but point to our daily struggle for ascendancy and prestige. The artist transposes the social capital, the symbolic capital, the cultural capital, the economic capital, the combat zones of social space into his paintings, and in the process reveals a fundamental act of revolt. This must be it!
Thus, indeed, contemporary art appears to be politically motivated and to seek to critically comment on our times, and Frank Wiebe is at the height of today’s social discourse. I am located in the cultural subfield, which is named art and surely requires an assessment of its own. At this point, the painter confronts me and rejects my assumptions. He does not receive unannounced visitors. But how can I find accommodation, how will it be possible for the inquirer to be heard and to take shape somewhere else? The pace and stance must now remain light and flexible. I am standing upright in front of the door knocking, but nobody is there to receive the guest.